Briefe von morgen, die wir gern gestern schon gelesen hätten
von Timur Vermes
Leben wir in der Hölle? Oder kommt die erst noch?
In einer nicht allzu fernen Zukunft ist alles kostenlos … aber nicht umsonst: Künstliche Intelligenz treibt uns in den Wahnsinn, und man kann sie noch nicht einmal richtig anschreien. Das neue große Ding sind Tattooentfernungen. Der Pflegenotstand ist durch Roboter behoben, aber irgendwie hatten sich das alle anders vorgestellt. Und Attila Hildmann würde gern wieder nach Deutschland zurück, aber Alice Weidel ist in ihrer Regierungs-AfD selbst in Ungnade gefallen …
Auszug des Klappentexts
Interessanter Ansatz, aber nicht überzeugend
Neues vom Meister des bitterbösen Humors
Timur Vermes ist seit seinem ersten unter eigenem Namen veröffentlichten Roman »Er ist wieder da« den meisten Lesenden kein Unbekannter mehr. Das Buch über die Rückkehr Hitlers in unsere heutige Zeit mit all den skurrilen wie bitterbösen Folgen wurde inzwischen verfilmt. Stilistisch ist Vermes‘ zweiter Roman »Die Hungrigen und die Satten« von gleicher Qualität, grotesk, abgründig, mit dieser Komik, die mich als Lesende kurz lachen lässt, bevor mir dieses Lachen im Halse stecken bleibt. Die beiden Romane haben mich dazu bewegt, »Briefe von morgen, die wir gern gestern schon gelesen hätten« zu lesen.
Kurz zur Biografie des Autors: Timur Vermes wurde 1967 in Nürnberg geboren, er studierte in Erlangen Geschichte und Politik. Er schrieb für verschiedene Boulevardzeitungen, heute vorwiegend für Magazine.
Ein Brief an Friedrich Merz
In verschiedenen Dokumenten – Briefen, Chatverläufen, E-Mails, Transkripten von Fernsehinterviews – lesen wir Nachrichten aus der Zukunft. Autor Timur Vermes beginnt mit einem bitterbösen Brief, den er selbst auf den Februar 2024 datiert, dem jetzigen Kanzler jedoch nahelegt, ihn erst in einigen Jahren zu lesen. Vermes skizziert darin eine politische Landschaft, in der sich ein Ruck nach rechts vollzogen hat, an dem Merz große Verantwortung trägt, eine Welt, in der Despoten das bekommen haben, wonach sie völkerrechtswidrig gegriffen haben. Dieser Brief liest sich wie das abgeschlossene Tagebuch der aktuellen Jahre, in denen wir leben und erleben, wie die Welt sich drastisch verändert. Dieser erste Brief stellt die schöpferische Qualität und Weitsicht des Autors beeindruckend zur Schau.
Pflegeroboter, Bildungsmisere, Denunzianten, Werbung
Nach diesem Intro holt Vermes praktisch gegen jeden Lebensbereich aus. Eltern beklagen sich bei ihrer Schule, weil sie die Leistung ihres Sprösslings ungerecht bewertet sehen, die vor allem auf ChatGPT aufbaut. Da lesen wir einen Brief an eine Versicherung, die für einen demolierten Pflegeroboter die Kosten übernehmen soll, der Opfer von (verständlicher) Aggression geworden ist. Mehrere Abschnitte sind einer Technologie gewidmet, die direkt mit den Augen verbunden ist und den Trägern rund um die Uhr Zugang zu allen Informationen der Welt bietet. Voraussetzung ist natürlich die Bereitschaft, permanent mit Werbung und anderem ungewollten Inhalt zugemüllt zu werden.
Die Themen sind zum großen Teil sehr naheliegend. Mit der grotesken Überspitzung, die durch die persönlichen Noten der Nachrichten noch an Intensität gewinnt, schafft es der Autor, die „Briefe“ authentisch wirken zu lassen.
Ermüdende Kreativität
Allerdings fehlt dem Ganzen der rote Faden. Das Buch ist, wie es der Titel vermuten lässt, ein Sammelsurium an Ideen dazu, was in näherer Zukunft in Politik und Gesellschaft passieren könnte. Ich muss zugeben, dass mir einige der Gedanken, die sich Vermes dazu macht, nicht zugänglich waren. Manche Abschnitte sind etwas wirr geschrieben und erinnern mich leider arg an das misslungene Werk „U“, das ich aus guten Gründen vor einiger Zeit in einen öffentlichen Bücherschrank gestellt habe. Andere Teile des Buchs waren mir zu vorhersehbar und geradezu langweilig.
Zwischendurch ein Wort zum Buchsatz
Ein Buch wie dieses verdient mit Sicherheit ein kreatives Layout. Schließlich werden darin Briefe und andere Dokumente gezeigt, die möglichst real herüberkommen sollen. Das ist größtenteils gelungen.
An manchen Stellen hingegen nicht: In der Kopie eines Briefs ist die Schrift teilweise verschwommen, in „Gott bei Taylor Swift“ steht schwarzer und roter Text auf mittelgrauem Hintergrund und ist ungeheuer schwer zu lesen, ähnlich bei „Strahlenschätze“. Für manche Lesende ist das, sorry, eine Zumutung.
Mein Fazit: Wenn ein Autor machen kann, was er will
So erscheint es mir: Seit Timur Vermes zum Bestsellerautor wurde, schert er sich nicht um die Sympathien seiner Lesenden. Und Verlage sehen es ihm nach, dass er zwischen seinen Highlights (s.o.) auch mal Mittelmaß wie „Briefe von Morgen“ abliefert. Dieses aktuelle Werk wirkt für mich wie „mal eben rausgehauen“. Vielleicht wird diese Beurteilung dem kreativen Aufwand nicht gerecht, den der Autor in die Erstellung der verschiedenen Dokumente aus der Zukunft gesteckt hat. Maßlose Begeisterung hat das Buch bei mir jedenfalls nicht ausgelöst.
Meine Bewertung

Hinweis: Keine bezahlte Werbung.
Coverabbildung: © eichborn, verwendet im Rahmen der Buchbesprechung | Rezension
| ISBN: | 978-3-8479-0201-0 |
| Sprache: | Deutsch |
| Ausgabe | Gebundenes Buch |
| Seitenzahl | 192 |
| Verlag | eichborn |
| Erscheinungsdatum: | 31.01.2025 |
Gute Idee mit Schwächen in der Umsetzung

