Die Bibliothek der verlorenen Geschichten

von Domenico Dara

Die Bibliothek der verlorenen Geschichten von Domenico Dara - Buchcover | Buchblog der Buchleserin

Eine Liebeserklärung an die Literatur und die Fantasie, die das Leben formt und den Tod überwindet

Es gibt Orte, an denen der Geist der Literatur in der Luft liegt. So ein Ort ist Timpamara, und hier lebt Astolfo Malinverno. Bücher und Geschichten bestimmen sein ganzes Leben, und als er seiner großen Liebe begegnet, scheinen die Grenzen zwischen Literatur und Realität auf wundersame Weise zu verschwimmen.

Auszug des Klappentexts

Timpamara – wo die Magie der Literatur das Leben formt und Fantasie Realität wird.

Über den Autor

Domenico Dara wurde 1971 in Catanzaro in Kalabrien geboren, wuchs in Girifalco auf und arbeitet heute zwischen Valbrona und Mailand. Gleich mit seinem Debütroman »Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall« erlangte er 2014 große Anerkennung, auch »Der Zirkus von Girifalco« wurde in Italien von Lesenden gefeiert. Domenico Dara hat für seine Werke zahlreiche Nominierungen erhalten und auch namhafte Preise gewonnen.

Das Dorf der Literatur

Die Handlung rund um die „Die Bibliothek der verlorenen Geschichten“ spielt in Timpamara, einem fiktiven Dorf in Kalabrien, in dem die Literatur schon seit Generationen eine wesentliche Rolle spielt. Im 19. Jahrhundert entstand hier die erste Papierfabrik, und die Menschen geben ihren Kindern die Namen bekannter Figuren aus Romanen.

Bibliothekar des Ortes ist Astolfo Malinverno, ein nachdenklicher Mann mit einer leichten Gehbehinderung, dem unverhofft die Aufgaben des Friedhofswärters übertragen werden. So lernt er Caramante kennen, den Tontechniker, der mit seinem Tonbandgerät die Stimmen der Toten aufzunehmen versucht.

Auf einem Grabstein entdeckt Astolfo das Foto einer Frau, ohne Namen und Geburts- und Sterbedatum, und verliebt sich in ihren Anblick, sogar in sie selbst. Eines Tages taucht an diesem Grab Ofelia auf, die der Frau auf der Fotografie zum Verwechseln ähnlich sieht. Vorsichtig nähern sich die beiden an, und für Astolfo verschwimmen die Grenzen zwischen der Realität und der erfundenen Welt all der Bücher, die ihn umgeben, mit jedem Tag mehr.

Leben und Tod von Menschen und Büchern

Als Bibliothekar und Friedhofswärter bewegt sich der von Domenico Dara liebenswert beschriebene Astolfo täglich zwischen den fiktiven Buchwelten voller Fantasie und scheinbar unsterblicher Romanfiguren und der ernüchternden Wirklichkeit, in der die Menschen in Timpamara geboren werden, aufwachsen, sterben und begraben werden. Diesen Zwiespalt versucht Astolfo dadurch geradezurücken, dass er die Enden einiger Romane umschreibt, den Protagonisten ein anderes Ende widmet, manche sogar sterben lässt, denen im Original ein Happy End vergönnt war. Zu guter Letzt erhalten die so Verstorbenen sogar eine Todesanzeige in der örtlichen Zeitung.

Und da sind die Bücher selbst, die eine Lebensspanne haben. Es schmerzt Astolfo, sie in den Mühlen, Pressen und Bottichen der Papierfabrik „sterben“ zu sehen. Deshalb rettet er einige davon und verschafft ihnen in der Bibliothek ein zweites Leben. Manche Exemplare bestattet Astolfo jedoch in einem eigens geschaffenen Bereich auf dem Friedhof auf ganz besondere Weise.

Die Verbindungen zwischen den Menschen

Den roten Faden in „Die Bibliothek der verlorenen Geschichten“ stellen die Begegnungen zwischen Astolfo und all den Menschen aus Timpamara dar, dem Bestatter Marfarò, dem stillen Elea, der trauernden Margherita und dem Tontechniker Caramante. Und natürlich Astolfos „Begegnung“ mit der unbekannten Frau auf dem Grabstein, die er Emma nennt, und die dann mit Ofelia Realität wird.

Domenico Dara lässt sich Zeit damit, diese Zusammentreffen vor unserem Auge durch Dialoge und Astolfos dargelegte Gedanken entstehen und wirken zu lassen. Handlungen und besonders die Gefühle des Bibliothekars entwickeln dabei eine Tiefe, die mich als Leserin sehr berührt hat und noch jetzt nachwirkt. Die Reflexionen über das Leben und den Tod rutschen dabei hin und wieder in den Bereich des Melancholischen ab, aber das passt zum Grundtenor des Romans. Viele dieser Gedanken gehen tief und geben in poetischen Worten fundamentale Ansichten wieder, denen ich als Leserin nur zustimmen und nichts hinzufügen möchte.

Die Kunst des Wortes

Manchen Lesenden ist das Buch laut den Rezensionen zu langatmig und ereignislos. In der Tat muss man sich auf den getragenen Erzählstil des Autors einlassen. Wir folgen dem Protagonisten Astolfo Malinverno, aus dessen Perspektive der Roman geschrieben ist, und haben dadurch Einsicht in sein Denken und seine Emotionen.

Fürs Lesen von „Die Bibliothek der verlorenen Geschichten“ sollte man sich Zeit lassen. Nicht weil das Buch schwer zu lesen wäre, das trifft überhaupt nicht zu. Daras Schreibstil ist von einer angenehmen Leichtigkeit, trotz des teilweise bedrückenden Themas, sogar der Humor kommt nicht zu kurz. Zeit lassen sollte man sich, um sich von der Atmosphäre, die der Autor schafft, in die wundervolle Geschichte hineinziehen zu lassen. Er weiß mit Sprache umzugehen, ich würde so weit gehen zu behaupten, dass ich lange nicht mehr ein Buch gelesen habe, das solche sprachlichen Qualitäten aufweist. Anja Mehrmann hat als Übersetzerin dabei gewiss hervorragende Arbeit geleistet und ihren Teil dazu beigetragen, dass die Magie des Textes auch im Deutschen spürbar wird.

„Ich konnte den Blick nicht von ihr lösen. Innerlich sagte ich mir immer wieder, dass mein zerknautschtes Leben sich gelohnt hatte, wenn sie der Preis dafür war, die Hand, die die Falten glattstreicht.“

Hach…

Mein Fazit

Zugegeben, bei der Betrachtung des Buchcovers und nach dem Lesen des Klappentextes hatte ich eine leichte Lektüre über einen verschrobenen Büchernarren erwartet. Über ein in Sepia getöntes Dorf in Süditalien mit allerhand illustren Figuren und unerwarteten Verstrickungen. Im Grunde beinhaltet „Die Bibliothek der verlorenen Geschichten“ genau all diese Dinge, nur auf andere, tiefgründigere Weise.

Es ist genau diese Tiefe, die mich als Lesende in die Geschichte hineingezogen und verzaubert hat, diese Nachdenklichkeit, die Gedanken über unsere Existenz, die Liebe zur Literatur und zwischen den Menschen, auch ein wenig die Melancholie und dieser Hauch von Mysteriösem, der durch Timpamara weht und Astolfos Leben durcheinanderwirbelt.

Ich kann „Die Bibliothek der verlorenen Geschichten“ jedem und jeder Lesenden nur ans Herz legen, es ist beste Literatur, gleich auf mehrere Weise.

Meine Bewertung

5-Sterne-Bewertung
Hinweis: Keine bezahlte Werbung.
ISBN:9783-462-00720-6
Sprache:Deutsch
AusgabeTaschenbuch
Seitenzahl416
VerlagKiepenheuer & Witsch
Erscheinungsdatum:13.02.2025

Beste Literatur, tiefgründig, melancholisch und wunderschön

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