Manchmal weißt du, was geschehen wird
von Lina Thiede
Eine eindringliche Zukunftsvision, die Fragen aufwirft
Das 22. Jahrhundert. Die durch den Klimawandel bedingte Nahrungsmittelknappheit treibt die Bevölkerung an ihre Grenzen. Die Lösung: Eine Nabelschnur, die Menschen mit einer neuartigen Nahrungsquelle verbindet, aber auch Abhängigkeiten schafft. Fundamentale Veränderung der menschlichen Existenz konfrontieren die Protagonisten*innen des Romans immer wieder mit der Frage:
Wie weit gehen wir, wenn wir hungern?
Auszug des Klappentexts
Ein bemerkenswerter Roman, der die bedeutsamen Fragen zur Menschlichkeit in den Fokus rückt.
Bevor die Zukunft beginnt
Auf den Roman »Manchmal weißt du, was geschehen wird« von Lina Thiede wurde ich durch den Radiator Verlag aufmerksam.
Die Frage: Wie weit gehen wir, wenn wir hungern? verführt zu einer spontanen Antwort. Gönnt man sich jedoch einen weiteren Moment und durchdenkt die Ausgangssituation, sieht es womöglich anders aus:
Man befindet sich im 22. Jahrhundert, die großen Krisen sind überwunden. Untergang und Verfall scheinen aufgehalten und die Welt glaubt sich in einem gerechteren, friedlicheren Zustand, in dem das Problem der menschlichen Ernährung gelöst scheint. Dennoch steht die Frage im Raum: Wie weit geht man dann, wenn man hungert?
Ein faszinierendes Gedankenspiel, das meine Neugierde geweckt hat – und ich danke dem Verlag für das Leseexemplar.
Der Kopf hinter der Geschichte
Der Roman »Manchmal weißt du, was geschehen wird« ist der zweite Roman der Autorin Lina Thiede. Sie wurde 1996 geboren, wuchs in Gießen auf und studierte Komparatistik, Musikwissenschaft sowie Theorien und Praktiken professionellen Schreibens in Saarbrücken, Bonn und Köln. Sie ist Mitgründerin und -herausgeberin des Literaturblattes Handjob sowie mehrfache Preisträgerin des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen. 2021 und 2022 gewann sie darüber hinaus den hr2-Literaturpreis und den Berliner Preis für Science-Fiction (2024). Zudem war sie Stipendiatin des Hessischen Literaturrats und des Goethe-Instituts Tschechien. Ihr Debütroman »Homo Femininus« erschien 2020 im Verlag The Dandy Is Dead. Die Autorin lebt und arbeitet in Köln.
Das Band, das verbindet
Lina Thiede hat mit ihrem Roman »Manchmal weißt du, was geschehen wird« eine luzide transhumanistische Zukunftsvision entworfen. Sie entführt den Lesenden in eine ferne Zukunft des 22. Jahrhunderts, in der sich das Verhältnis zwischen Menschen und Ernährung radikal verändert hat. Im Zentrum der Erzählung stehen die sogenannten Nutritor*innen – künstlich geschaffene, menschenähnliche Wesen, die nicht nur Nahrung liefern, sondern über eine körperliche Verbindung, eine Art Nabelschnur, direkt mit einzelnen Menschen verbunden werden können. Diese Verbindung des Gebens und Nehmens gewährleistet zwar die Versorgung, schafft jedoch Abhängigkeiten und bedeutet Kontrolle und verschafft Macht. In Thiedes Roman werde verschiedene Gedankenmodelle bespielt: Der Hunger wird nicht bloß als körperliches Bedürfnis verhandelt, sondern als Auslöser tiefgreifender Fragen nach emotionaler Bindung, Macht und persönlicher Freiheit. Was passiert mit den Menschen, wenn Nähe nicht nur gewünscht, sondern biologisch notwendig ist?
Zwischen Bindung, Macht und Moral
In der Geschichte »Manchmal weißt du, was geschehen wird« wird das Leben von Jester Duncan – einem Sohn und Bruder, einem Liebhaber und Nutritor – beleuchtet. Zu Beginn der Erzählung muss sich der jugendliche Jester in einer Welt voller Gefahren, Hunger und Ausbeutung zurechtfinden.
Die Autorin versteht es, mit nur wenigen Pinselstrichen eindrucksvolle Bilder einer künftigen Welt zu zeichnen. In ihren Vorstellungen greift sie das transhumanistische Paradigma auf und führt die Menschen in ihrer Geschichte über die Grenzen des Biologischen hinaus. Erzählt hierbei ihre bemerkenswerte Geschichte über den Hunger aus verschiedenen Perspektiven.
Eingangs lernt der Lesende den 15-jährigen Jester kennen, begegnet bald darauf Salman Toumi und seiner Familie sowie der einsamen Designerin und Ehefrau Lucia Benedetti. Alle drei ProtagonistInnen führen völlig unterschiedliche Leben, scheinen zunächst nichts gemeinsam zu haben – und doch werden ihre Lebenswege und Schicksale im Verlauf der Geschichte nach und nach miteinander verwoben.
Der erzählerische Stil der Autorin ist überzeugend, und ich kann gut nachvollziehen, warum sie mit den eingangs erwähnten Preisen gekrönt wurde. Ganz unaufgeregt gelingt es ihr, allein durch ihre Sprache und die wenigen Bilder einen Spannungsbogen zu kreieren, der die Lesenden an die Geschichte fesselt und dazu bringt, förmlich durch die Seiten zu gleiten.
Mehr von allem
Die Idee zum Roman, die Figurenzeichnung und der Plot sind überzeugend umgesetzt und verleihen dem Roman Strahlkraft und eine bemerkenswerte gesellschaftliche Relevanz. Dennoch bleibt bei mir ein nachdrückliches Gefühl der Ambivalenz zurück.
Die Autorin hat geschickt die erzählerischen Fäden durch die Geschichte gewirbelt. Durch den Perspektivwechsel (den ich in Romanen immer sehr schätze) konnte man mit jedem Charakter mitfiebern und durch die Geschichte mäandern. Trotzdem hielt ich nach dem Beenden des Buchs zu viele lose Enden in der Hand. Wie ich schon öfters in meinen Besprechungen erwähnt habe, habe ich grundsätzlich kein Problem mit offenen Fragen. Im Gegenteil regen sie doch die eigene Fantasie an, doch dieses Mal beschlich mich das Gefühl des Unvollendeten.
Nach meinem Leseempfinden hätte dem Roman »Manchmal weißt du, was geschehen wird« ein deutliches Mehr an Seiten gutgetan. Warum? Die Autorin entwirft in ihrem Buch eine eigenwillige Zukunftsvision, zielt dabei auf die drängenden und zentralen Fragen unserer Gegenwart ab und bespielt am Rande die Climate Fiction. Damit bewegt sich die Autorin in thematischen Sphären, die den Platz und Raum zur ausführlichen Ausleuchtung verlangen. Mehr Raum für philosophische Reflexionen, mehr Raum für die vertiefte Weiterentwicklung der Figuren und für das Verknüpfen einiger loser Handlungsfäden.
Zu meinem Gefühl, dass die Geschichte »unvollendet« im Raum schwebt, umkreiste mich unaufhörlich der Gedanke, dass die Protagonisten – so gut sie gezeichnet und sprachlich gelungen präsentiert wurden – mich nicht vollständig für sich gewinnen konnten; ihre Charakterzüge und Handlungen blieben für mich schwer greifbar, ja manchmal sogar fern.
Dennoch bewundere ich die literarische Qualität des Werkes und schätze die Fähigkeit der Autorin, mit Worten eine so visionäre Welt zu erschaffen.
Mein Resümee
Der zweite Roman »Manchmal weißt du, was geschehen wird« von Lina Thiede ist ein bemerkenswert ambitionierter Roman, der eine transhumanistische Zukunftsvision entwirft und dabei zentrale Fragen zu Abhängigkeit, Kontrolle und Identität behandelt. Ihre Figurenzeichnung ist nuanciert, die Themenwahl mutig und relevant. Das Werk ist ein literarisch starker und überzeugender Roman, der wichtige Impulse setzt – und gleichzeitig Lust auf mehr von dieser Autorin macht.
Meine Bewertung

Hinweis: Unbezahlte Werbung - Rezensionsexemplar | Vielen Dank an den Radiator Verlag für das Leseexemplar!
ISBN: | 978-3-911265-20-1 |
Sprache: | Deutsch |
Ausgabe | Gebundenes Buch |
Seitenzahl | 272 |
Verlag | Radiator Verlag |
Erscheinungsdatum: | 21.03.2025 |
Ein starker Roman, der zum Nachdenken anregt.