Die Passagierin

von Franz Friedrich

»Die Passagierin« von Franz Friedrich - Buchcover | Buchblog der Buchleserin

Eine Zeitreise nach Kolchis

»Ich war nach Kolchis zurückgekehrt, weil ich hoffte, hier das Gefühl der Beschädigung lindern zu können, das vor einer Weile in mir aufgekommen war und seitdem nicht mehr von mir weichen wollte. Ich hatte Phantomerinnerungen, Bilder, die sich mir ins Gedächtnis drängten, als wären es Erinnerungen, dabei hatte ich sie nicht erlebt.«

Nach Jahren kehrt Heather zurück in das Sanatorium, in das sie als Teenager evakuiert wurde – durch eine Zeitreise. Doch Kolchis hat sich verändert. Das Programm, das ihre Rettung ermöglichte, ist eingestellt worden. Das Sanatorium ist verfallen, die übrig gebliebenen Bewohner haben sich in ihre eigene Welt zurückgezogen. In Matthias, der aus der Zeit der Bauernkriege evakuiert wurde, doch von seinen Erlebnissen nicht loskommt, findet Heather einen Vertrauten, der sich weigert, zu akzeptieren, dass die Vergangenheit nicht verändert werden kann.

Auszug des Klappentexts

Eine Sci-Fi-Dystopie mit erzählerischen Schwächen

Warum ich zum Buch gegriffen habe

Eine Zeitreise zu einem bestimmten Zeitpunkt, zu einem Ort, an den Menschen aus verschiedenen Epochen evakuiert wurden, um dem Tod oder Verletzungen zu entgehen: Diese Grundidee faszinierte mich. Wem würde ich begegnen, wenn es solche Zeitreisen wirklich gäbe? Wie gehen diese unterschiedlichen Menschen mit ihrem Schicksal um, wenn ihnen die Möglichkeit zur Heilung gegeben wird? Und wie begegnen sie einander? Der Roman »Die Passagierin« widmet sich eben jenen Gedankenspielen.

Über den Autor

Franz Friedrich wurde 1983 in Frankfurt (Oder) geboren und lebt heute in Berlin. Er studierte Experimentalfilm an der Universität der Künste Berlin und machte seinen Abschluss 2011 in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut. Sein Debüt »Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr« gelangte auf die Longlist des Deutschen Buchpreises und erhielt den Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung. Auch »Die Passagierin« landete auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2024.

Rückkehr in eine verlassene Welt

Von Beginn an breitet der Autor in »Die Passagierin« mit Kolchis das Bild einer verlassenen Welt am Ufer eines unbekannten Meeres aus, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Die verschiedenen Gebäude des Sanatoriums sind größtenteils verfallen und unbewohnt, abgesehen von den Zurückgebliebenen in der Einrichtung. Über allem liegt eine Art bittersüße, leichte Melancholie, wie ein Lost Place am Ende eines heißen Sommers. Dazu passt die Stimmung, mit der Heather in diese Zeit zu diesem Ort gelangt, der geografisch nicht genauer lokalisiert wird. Die Protagonistin war mit 15 Jahren hierher evakuiert worden, um einem zunächst nicht näher genannten Schicksal in ihrer Zeit in den 1990ern zu entgehen und geheilt zu werden.

Heather trifft auf Menschen, die schon bei ihrem ersten Aufenthalt in Kolchis waren und von dort nicht mehr wegwollten, sowie einige neue Bewohner. Unter Letzteren ist Matthias, der in den Bauernkriegen rund um Frankenhausen in Mitteldeutschland gekämpft hat und mit seiner Vergangenheit hadert. Aus der geplanten Woche Aufenthalt wird für Heather eine längere Zeit, in der sie sich in die vielfältige Gruppe aus Zeit-Evakuierten langsam integriert und einfühlt.

Sie gelangt in den Besitz von Gesprächsprotokollen der Bewohner des Sanatoriums. Über diese und die Sitzungen, an denen Heather selbst teilnimmt, erfahren wir als Leser:innen von den Einzelschicksalen der Bewohner, aus welchen Zeiten sie nach Kolchis gebracht wurden und welche Gedanken sie umtreiben.

Fragen und Antworten nach Schuld und Verantwortung

Dieses Opening und Heathers Suche nach Heilung und ihrer Rolle in der bunt zusammengewürfelten Schicksalsgemeinschaft stellt den attraktiven Ausgangspunkt für eine vielversprechende Auseinandersetzung mit tiefgreifenden Fragen dar. Franz Friedrich stellt in Interviews seine Intentionen auch entsprechend dar: Wie würden Menschen unterschiedlicher Epochen miteinander ihre Rollen in den jeweiligen Zeiten besprechen? Wie würden sie Fragen nach Verantwortung und Schuld verhandeln? Wie gehen sie mit der Tatsache um, dass sie zwar die Geschichte bereisen, diese aber durch ihr Handeln nicht beeinflussen und weiterhin mit gemachten Fehlern leben müssen?

In verschiedenen Kapiteln beleuchtet der Autor diese Fragestellungen, einmal in den Gesprächsprotokollen, in Dialogen zwischen den Bewohnern, dann wieder in den Gedanken der Protagonistin. Matthias‘ Hadern mit seiner Rolle im Bauernkrieg verdeutlicht recht eindrücklich, wie stark das eigene Handeln und die Unveränderlichkeit der Vergangenheit unser Wesen beeinflussen kann.

Der dünne rote Faden, verheddert

Es ist sehr schade, dass dem Roman »Die Passagierin« zwischen all den philosophischen Betrachtungen komplett der rote Faden fehlt. Da gibt es keine eindrückliche Handlung, nur die Aneinanderreihung von Gesprächen und Protokollen, mal wird im Meer gebadet, dann im Stuhlkreis oder in der Parkanlage diskutiert. Der Autor schert sich nicht um gängige Dramaturgie oder Spannungsbögen.

So hangelt man sich als Lesende:r von einem Kapitel zum nächsten in Erwartung des Plot-Twists, des dramatischen Highlights, des Aha-Effekts. Dabei wird der Roman streckenweise so ausufernd und verliert sich in Nebensächlichkeiten, dass man der ohnehin kaum existierenden Handlung nur mit Mühe noch folgen kann.

Leicht machte es mir der Autor von »Die Passagierin« auch nicht mit der Sprache: Es mag ein Stilmittel sein, allerdings reiht sich auf sehr vielen Seiten Hauptsatz an Hauptsatz, nur durch Kommas getrennt. Das ist Geschmackssache, mir hat es den Genuss des Lesens gemindert.

Abgesehen von der oben beschriebenen Ankunft Heathers in Kolchis, wo man noch eine Idee von der Welt bekommt, in der die Sanatorien stehen, bleiben für den Rest des Romans die Szenerie und die Gegebenheiten äußerst vage und viele Fragen unbeantwortet. Wer hat die Evakuierungen geleitet und warum wurden sie gestartet und dann wieder eingestellt? Wer lebt rund um Kolchis, welche Rolle spielen die Kinder, die dort die Bahn fahren oder im Postamt arbeiten?

Mehr philosophische Abhandlung als Zeitreiseroman

Mein Fazit: Die Grundidee, Menschen unterschiedlicher Epochen zusammenzubringen und über ihr Dasein und ihren Platz in der Geschichte sowie die Konsequenzen ihres Handelns philosophieren zu lassen, finde ich grandios. Dies war auch der Grund, warum ich zu diesem Buch gegriffen habe.

Vielleicht liegt es an meiner falschen Annahme, damit einen tiefgründigen Science-Fiction-Roman in den Händen zu halten, vielleicht hätte ich vorher mehr über den Autor lesen sollen, vielleicht versprach die Aufmachung und der Klappentext etwas anderes …

Vielleicht hätte »Die Passagierin« aber auch kein Roman werden sollen, sondern ein Sachbuch über die oben beschriebenen Fragestellungen, das weniger im Belletristikregal als vielmehr bei den zeitgenössischen Philosophen besser aufgehoben wäre.

Meine Bewertung

3-Sterne-Bewertung der Buchleserin
Hinweis: Keine bezahlte Werbung.
ISBN:978-3-10-397117-0
Sprache:Deutsch
AusgabeGebundenes Buch
Seitenzahl512
VerlagS. Fischer
Erscheinungsdatum:24.04.2024

Zeitreise trifft auf Dystopie

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