Das Haus in dem Gudelia stirbt
von Thomas Knüwer
Schuld schwimmt oben
Jahrhundert-Unwetter in Unterlingen. Gudelia sitzt am Fenster ihrer Dachgeschosswohnung und starrt auf die Fluten. Die Nachbarn sind geflohen, sie ist geblieben. Sie hat Schlimmeres erlebt.
Etwas treibt vorbei. Sind das … Menschen? Gudelia greift zum Telefon – kein Signal. Die Körper treiben weiter, Gudelia bleibt. Sie wird Schlimmeres erleben.
Auszug des Klappentexts
Wenn die Flut den Schleier lüftet. Eine Frau und ihre Geschichte.
Warum dieses Buch?
Der Kriminalroman »Das Haus in dem Gudelia stirbt« von Thomas Knüwer begegnete mir bereits im Frühsommer bei den Ankündigungen der Neuerscheinungen für den Herbst 2024 vonseiten des Verlagshauses. Bereits damals erweckte Gudelia meine Aufmerksamkeit. Doch sie musste warten.
Denn zuerst wollte ich unbedingt das mit dem Pulitzerpreis gekrönte Buch Ein Tag im Leben von Abed Salama von Nathan Thrall lesen.
Doch Gudelia habe ich nicht vergessen. Meinen Besuch auf der Frankfurter Buchmesse koordinierte ich so, dass ich die Autorenlesung besuchte und anschließend Knüwers Debütroman kaufte. Mit Widmung und Foto. Das versteht sich. 🙂
Ein Preis für ein Debüt
Mit »Das Haus in dem Gudelia stirbt« hatte der Hamburger Thomas Knüwer sein Verlagsdebüt als Autor. Kurz nach dem Erscheinen des Kriminalromans gewannen der Autor und sein Verlag den Deutschen Krimipreis 2024 in der Kategorie nationale Krimis. Respekt!
Der Autor leitet als studierter Grafikdesigner eine Digitalagentur in Hamburg, und das erfolgreich, denn hier gab es einige nationale und internationale Auszeichnungen. Mit Erfolgen kennt sich Knüwer demnach aus, und es bleibt spannend, den Werdegang des Autors weiter zu verfolgen.
Ein Haus, die Flut und der Tod
Gudelia ist eine taffe Seniorin. Mit einundachtzig Jahren lebt sie in der Dachgeschosswohnung ihres Hauses. Ihr Haus. Darauf ist sie stolz. Ein Zuhause für die Familie. Doch die Familie ist tot. 1984 wurde der Sohn ermordet. 1998 verlor sie ihren Mann. Erst an eine Krankheit. Später ganz. Doch allein lebt sie in dem Haus nicht. Die untere Wohnung hat sie vermietet, an die Schröers. Die sind vor den Fluten geflohen. Gudelia blieb. So sitzt die alte Dame am Fenster. Sieht den strömenden Wassermassen zu. Zählt die Ziegelsteine an der Außenmauer, um den steigenden Pegel besser abschätzen zu können. Dreizehn Reihen trennen sie von der braunen Brühe. Die Vorhänge sind gebügelt. Es wäre eine Schande.
In den Fluten entdeckt Gudelia allerhand Dinge wie fortgerissene Autos, Tierkadaver, Baumstämme, eine Mülltonne und zwei auf dem Rücken gefesselte Hände. Moment. Gefesselte Hände?
So schnell wie die Fluten in Unterlingen ankamen, verschwand das Wasser wieder. Es blieben Unrat, Gestank und zerstörte Heime. Plünderer und Hilfstrupps treffen ein, damit auch die Fragen und Probleme. Doch Gudelia hat schon Schlimmeres erlebt. Sie wird Schlimmeres erleben.
Ein kurzer Besuch in Unterlingen
Knüwer wählte für seinen Roman »Das Haus in dem Gudelia stirbt« die Ich-Perspektive. Der Lesende verfolgt über drei scheinbar willkürlich wechselnde Zeitebenen – 1984, 1998 und 2024 – Gudelias Leben. Taucht dabei in ihre Gedankenwelt ein. Nimmt an ihrem Schicksal teil.
Der Autor hat mit Gudelia eine facettenreiche Protagonistin geschaffen. Der Lesende steht dieser Figur ambivalent gegenüber. Ein herrlicher Charakater, mit dem man mitfühlt und einige Handlungen ungläubig akzeptieren muss. Eine Antiheldin mit einer Vergangenheit, die sie nun einholt.
In den Rückblenden darf der Lesende Heinz, Gudelias verstorbenen Mann, kennenlernen. Dieser Figur hat Knüwer ein drastisches Päckchen geschnürt. Mit diesem Nebencharakter bespielt er virtuos die Schattenseiten des menschlichen Lebens, lässt den Lesenden in die zwischenmenschlichen Abgründe blicken. Und so gelingt ihm der gewagte Tanz auf dem schmalen Grat zwischen Mitleid, Schuld, Verstehen, Verurteilen und Mitfiebern.
Die Handlung wird in unaufgeregter Sprache dargelegt. Die Dramatik ergibt sich aus den Geschehnissen, unterstützt von einem Sprachstil, welcher geprägt ist von kurzen, strakkatoartigen Sätzen. Durch die Wiederholung ausgewählter prägnanter, scheinbar unwichtiger Gedankengänge bzw. Szenenbilder, um damit der etwas unwirschen Figur Gudelia mehr Tiefe zu verleihen und sie für den Lesenden greifbarer zu machen.
Im ersten Teil des Buches funktioniert für mich dieser Schreibstil ganz wunderbar. Er wirkte erfrischend anders und ließ diese durch Melodram geprägte Geschichte wie einen Pageturner wirken. Tatsächlich war mein Besuch in Unterlingen von kurzer Dauer. Ein Tag, und der Roman »Das Haus in dem Gudelia stirbt« war ausgelesen. Das spricht doch für sich. Oder?
Ein kritischer Blick
Zu Beginn löste der Schreibstil bei mir Begeisterungsstürme aus. Er war erfrischend anders. Wie ein Sturm zu einem Wind wird, wird aus Wind ein zarter Hauch. Ein Windhauch kann ein Feuer entfachen oder es vorher ausblasen.
Kurz gesagt, mir fehlte auf Dauer die sprachliche Finesse. Das virtuose Spiel aus Buchstaben, Wörtern und Sätzen, um eine Sprachmelodie zu erzeugen, die das Fliegen durch die Seiten begleitet. Ein erzählerlicher Stil, der es vermag, aus Buchstaben Töne und Bilder zu erzeugen, und mich mit Genuss durch die Vielfalt der Sprache mäandern lässt.
Die von kurzen und knappen Satzkonstrukten geprägte Erzähltechnik funktioniert. Fern von einer Szenerie voller Action und thrillerhafter Handlung wird reichlich Spannung erzeugt. Der gewählte Erzählstil führt gelungen durch die Geschichte, hat man sich erstmal »eingelesen«.
Bei mir bleibt ein lascher Beigeschmack. Diesen projizierte ich direkt auf den aktuellen Zeitgeist. Alles muss leicht verständlich (einfache Sprache) und darf nicht zu ausschweifend sein, wegen der zunehmend verringerten Aufmerksamkeitsspanne (wissenschaftlich erwiesen).
Niemand scheint mehr Zeit zu haben und viel Geduld sowieso nicht, daher halten wir es von nun an kurz. Knappe, schlichte Sätze und keine sprachlichen Raffinessen mehr. Zack. Aus. Fertig.
Einfache Sprache, Barrierefreiheit alles wichtig und notwendig. Aber bitte nicht in der Literatur. Hier darf weiterhin geklotzt, geprotzt und mäandert werden, und selbstverständlich alles gern in jedem Bereich eines guten Romans: Sprache, Handlung, Setting und Charaktergestaltung.
Der Titel »Das Haus in dem Gudelia stirbt« verrät es, das Ende ist klar. Das Warum hingegen nicht. Spätestens nach der Hälfte des Buchs war für mich aber leider die Fortentwicklung der Handlung in groben Zügen ersichtlich.
Dessen ungeachtet habe ich den Krimi gerne zu Ende gelesen, denn Gudelia war mir ein wenig ans Herz gewachsen.
Mein Resümee
»Das Haus in dem Gudelia stirbt« ist ein solider Kriminalroman, über eine vom Leben gebeutelte Frau in ihrem Haus in einem Dorf, das mit einer Naturkatastrophe konfrontiert wird, welche nun leider zu unser aller Lebensrealität gehört.
Mit seinem Roman hat Thomas Knüwer den Zeitgeist in die Kriminalliteratur gebracht und wurde dafür – als Verlagsdebütant – direkt mit dem Krimipreis belohnt. Chapeau und Gratulation.
Ich habe das Buch gern gelesen und bin gespannt, von welchem Stil seine kommenden Werke geprägt sein werden. Wer einen Kriminalroman außerhalb der gängigen Genrerahmen sucht, wird mit dem lesenswerten Buch seine Freude haben.
Meine Bewertung
Hinweis: Keine bezahlte Werbung.
ISBN: | 978-3-86532-882-3 |
Sprache: | Deutsch |
Ausgabe | Taschenbuch |
Seitenzahl | 290 |
Verlag | Pendragon |
Erscheinungsdatum: | 21.08.2024 |
Ein Roman, der das Krimigenre neu definiert.