Ein Tag im Leben von Abed Salama
von Nathan Thrall
Ein biografisches Sachbuch über Palästina
Vor den Toren Jerusalems kommt es zu einer Tragödie, als ein mit palästinensischen Kindern besetzter Schulbus von einem Sattelschlepper gerammt wird und in Flammen aufgeht. Ungeklärte Zuständigkeiten und lähmende Bürokratie im Grenzgebiet verhindern ein schnelles Eingreifen der Rettungskräfte. Am Unfallort treffen israelische und palästinensische Menschen aufeinander, die gemeinsam versuchen den Kindern zu helfen. Ausgehend von diesem Ereignis werden einfühlsam ihre unterschiedlichen Lebensgeschichten erzählt.
In seinem auf Tatsachen basierenden Buch gibt Nathan Thrall der Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts ein zutiefst menschliches Gesicht. Selten wurden die Auswirkungen israelischer Siedlungspolitik für das tägliche Leben im Westjordanland so schonungslos und bewegend beschrieben.
Auszug des Klappentexts„Eine anschauliche, scharf sezierte Darstellung einer einzigartigen Lebensrealität.“ Deborah Feldman
Eine biografische Erzählung, die dem israelisch-palästinensischen Konflikt ein menschliches Gesicht verleiht – ungeschönt und berührend zugleich.
Ein paar einleitende Worte.
»Ein Tag im Leben von Abed Salama« von Nathan Thrall wurde in der Kategorie »Sachbuch« 2024 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet und erschien im August 2024 in der deutschen Übersetzung.
Auf meinem Blog findet man keine Sachbücher. Als mir vom Verlag dieses Werk als Leseexemplar angeboten wurde, konnte ich nicht widerstehen. Zu drastisch ist der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt in den vergangenen Monaten zurück in unser aller Bewusstsein gerückt.
Obwohl ich keinen direkten Bezug zur Region habe, beschäftigen mich die Vorgänge dort. Es ist mir ein Anliegen, besser zu verstehen und mehr darüber zu lesen, wie die Menschen im Nahen Osten leben. Hineinspüren in das, was sie vom Leben erwarten, was sie denken und eine Ahnung erlangen, wie die vorherrschenden Probleme entstanden sind. Und welche Bemühungen existieren, den Konflikt für alle gerecht aufzulösen, ohne weiteres Leid auf allen Seiten zu verursachen, sofern dies überhaupt im Bereich des Möglichen liegt.
Deshalb danke ich dem engagierten Team des Pendragon-Verlags von Herzen für das persönliche Leseexemplar.
Bevor ich mich meiner Buchbesprechung widme, erscheint mir noch der Hinweis wichtig, dass der Autor sein Buch »A Day in the Life of Abed Salama: Anatomy of a Jerusalem Tragedy« bereits am 03. Oktober 2023 veröffentlichte.
Wer ist der Preisträger?
»Ein Tag im Leben von Abed Salama« wurde vom amerikanischen Autor Nathan Thrall verfasst. Thrall erblickte in Kalifornien das Licht der Welt und lebt seit vielen Jahren mit seiner Familie in Jerusalem.
Seine Artikel und Beiträge erschienen u. a. im New York Times Magazine und in The Guardian. Sie wurden beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und beim Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen zitiert. Nathan Thrall war ein Jahrzehnt Vorsitzender des Arab-Israeli Projects bei der international Crisis Group, die sich mit Lösungsvorschlägen zu internationalen Konflikten beschäftigt.
Zusammenfassend kann man behaupten, dass Nathan Thrall ein Autor mit fundiertem Fachwissen und einem persönlichen Bezug zur Region ist.
Ein Tag und ein Leben lang.
Das Buch »Ein Tag im Leben von Abed Salama« ist kein klassisches Sachbuch, sondern ein Tatsachenbericht mit einer feinen literarischen Note.
Es berichtet feinfühlig und ohne Wertung von einer Katastrophe, welche sich im Jahr 2001 vor den Toren Jerusalems auf der Jaba-Straße (auch »Todesstraße« genannt) abspielte.
Ein Sattelschlepper rammt einen Schulbus, vollbesetzt mit palästinensischen Kindern. Der Bus geht in Flammen auf und wird zur tödlichen Falle für mehrere Kinder und eine Lehrerin. Das Buch thematisiert einfühlsam die Auswirkungen der Tragödie. Beleuchtet die ungeklärten Zuständigkeiten und die erschreckend langsame Bürokratie, welche letztlich ein schnelles Eingreifen ausgebildeter Rettungskräfte verhindern.
Milad, der fünfjährige Sohn von Abed Salama, ist eines der Schulkinder im Bus. Er war voller Vorfreude auf den Klassenausflug, wollte unbedingt und trotz der Bedenken seiner Eltern (u. a. wegen des schlechten Wetters) am Schulausflug teilnehmen.
Das Buch beschreibt die nervenaufreibende Suche eines verzweifelten Vaters nach dem Verbleib seines geliebten Sohns. Als der Vater endlich den Unglücksort erreicht, werden die ersten Kinder von Helfern in deren privaten Fahrzeugen in die umliegenden Krankenhäuser gebracht. Hat sein kleiner Sohn überlebt? Ist er verletzt? In welches Krankenhaus wurde Milad gebracht? Kann der Vater zu ihm, oder verwehrt die falsche Farbe seines Ausweises das Passieren des israelischen Checkpoints?
Am Unfallort treffen israelische und palästinensische Menschen aufeinander, man versucht zu retten, zu helfen und Ordnung ins Chaos zu bringen. Ausgehend von diesem schicksalhaften Ereignis werden feinfühlig und schrittweise die unterschiedlichen Lebensgeschichten einiger anwesender und betroffener Personen erzählt, umrahmt von der verzweifelten Suche eines Vaters nach seinem Kind.
Ein erzählendes Sachbuch.
Mit »Ein Tag im Leben von Abed Salama« hat der Autor ein außergewöhnliches Sachbuch geschaffen, welches von einem Artikel in der New York Review of Books ausgeht. Dieser Artikel berichtet von dem Unfall, beleuchtet die chaotischen und langsamen Rettungsmaßnahmen sowie die Hindernisse, denen die palästinensischen Familien gegenüberstanden.
Thrall schuf ein Buch, das geprägt ist von einer ausgiebigen Recherche (25 Seiten Quellenangaben am Ende) und seinem fundierten Sachwissen.
Neben der Katastrophe thematisiert er das Leben unter israelischer Besatzung, die systemischen Ungleichheiten und die historischen sowie aktuellen Kämpfe in der Region.
Um dem Anspruch eines biografischen Sachbuchs gerecht zu werden und zum besseren zum Verständnis bietet das Sachbuch am Ende die zahlreichen Quellenangaben und eine Abkürzungsübersicht zu den verschiedenen politischen Vereinigungen. Zwischen den Kapiteln eingestreut finden sich zur Veranschaulichung einige Kartenausschnitte zum Grenzverlauf, zur Lage der verschiedenen Städte und deren Zuordnung (jüdisch oder palästinensisch) sowie eine Übersicht zum Großraum Jerusalem mit seinen verschiedenen Zonen.
Im Fokus der Schilderung stehen die Menschen wie Abed Salama mit seiner Familie, Huda Dahbour sowie all die anderen Protagonisten und deren Familien, welche bereitwillig Einblick in ihr Leben im Westjordanland gewährt haben.
Das Buch »Ein Tag im Leben von Abed Salama« beleuchtet die Thematik des Israel-Palästina-Konflikts aus der Sicht dieser betroffenen palästinensischen Familien und berichtet zeitgleich über die Geschichte der Region. Klärt aufschlussreich auf über die verschiedenen politischen Gruppierungen, die Entstehung der Städte bzw. Zonen, der Grenzen und Mauern. Berichtet über den jahrzehntelang schwelenden Konflikt, beschreibt die Folgen von Annexion, Intifada, Anschlägen, Verfolgungen und Gefängnisaufenthalten.
In all diesen konfliktbeladenen Erzählungen der ProtagonistInnen gibt es auch Platz für die zarten Bande der Zuneigung, der Liebe und Freundschaft, Beschreibungen über die Wertvorstellung der Familie, das praktizierte Prinzip der arrangierten Ehen und dem ursprünglichen Leben auf dem Land.
Durch den erzählerischen Stil schuf der Autor mit »Ein Tag im Leben von Abed Salama« ein einzigartiges Sachbuch. Er klagt nicht an. Bezieht keine Position, berichtet lediglich aus dem Leben seiner Protagonisten. Benennt zeitlich chronologisch die verschiedenen Aktionen und Reaktionen sowie die daraus resultierenden Konsequenzen für die palästinensischen Menschen, mit denen er in der langjährigen Recherchezeit ausführliche Interviews führen konnte.
Das Buch ist ein bewegendes Werk. Es zu lesen, ist aufwühlend und löste in mir eine Vielzahl unterschiedlicher Emotionen aus. Vor allem verschaffte es mir einen tieferen Einblick in die komplexe Lebensrealität, es half mir besser zu verstehen, meinen Blickwinkel zu erweitern, und hinterließ einen bleibenden Eindruck.
Einen Punkt möchte ich hervorheben, der nur indirekt mit der eigentlichen Tragödie zu tun hat und der im Buch ebenfalls thematisiert wird: Thrall beschreibt eine grenzüberschreitende Hilfsbereitschaft und Freundschaft zwischen Arabern und Israelis. Dieser aufschlussreiche Einblick ist erhellend und bescherte mir ein Gefühl der Hoffnung.
Mein Resümee
Das Buch »Ein Tag im Leben von Abed Salama« von Nathan Thrall ist ein aufrüttelndes, bewegendes und zutiefst berührendes biografisches Werk von und für Menschen, die sonst kaum Gehör finden. Mit seinem Sachbuch hat er den Opfern dieser Tragödie einen Namen, eine Stimme gegeben und ihre Geschichte gegen das Vergessen hinaus in die Welt getragen.
Wer sich etwas tiefergehend mit der Thematik zum Israel-Palästina-Konflikt beschäftigen möchte und wissen will, warum es kein schwarz und weiß gibt, und schon gar keine einfache Lösung, sollte unbedingt dieses Buch lesen.
Mich hat es in meinen Ansichten bestätigt: Wir sind alle nur Menschen, und so wünsche ich allen Menschen in der Region eine baldige und friedliche Lösung.
Meine Bewertung
Hinweis: Werbung - Rezensionsexemplar | Vielen Dank an den Pendragon Verlag!
ISBN: | 978-3-86532-883-0 |
Sprache: | Deutsch |
Ausgabe | Gebundenes Buch |
Seitenzahl | 336 |
Verlag | Pendragon |
Erscheinungsdatum: | 07.08.2024 |
Ein erzählendes Sachbuch – komplex, bewegend und tiefgründig