Das andere Tal

von Scott Alexander Howard

Das andere Tal von Scott Alexander Howard | Buchcover | Buchblog der Buchleserin

Vergangenheit und Zukunft

Dieses Tal ist ein besonderer Ort. Geht man nach Osten oder Westen, stößt man auf die gleichen Häuser, Hügel, Straßen – doch alles ist zwanzig Jahre zeitversetzt. Nur in Trauerfällen dürfen die Grenzen passiert werden. Als die junge Odile in Besuchern aus der Zukunft die Eltern ihres Freundes Edme erkennt, weiß sie, dass er bald sterben wird. Was wäre, wenn Odile das ihr auferlegte Schweigen bricht? Ein bewegendes und außergewöhnliches Debüt über Freiheit und die Macht des Schicksals.

Auszug des Klappentexts

Ein Zeitreise-Roman der anderen Art – dystopisch, düster und ergänzt um etwas Philosophie

Neu im Geschäft

„Das andere Tal“ ist ein Debütroman des kanadischen Autors Scott Alexander Howard. Wer meinen Blog aufmerksam verfolgt, weiß, dass ich immer auf der Suche nach neuen Autoren bin, denn es ist eine Leidenschaft von mir, neue Schriftsteller zu entdecken und in ihre Werke einzutauchen.
Natürlich verhält es sich regelmäßig so, dass der neue Schreiber oftmals nur für mich neu ist. Doch bei dieser Buchbesprechung sind das Werk und der Autor ganz neu im Geschäft.

Der Autor

Mit „Das andere Tal“ hat der Autor seinen ersten Roman der Welt präsentiert und lässt uns teilhaben an seinem Können. Howards Werdegang verspricht einen interessanten literarischen Ansatz. Er hat an der Universität von Toronto in Philosophie promoviert, war Postdoktorand in Harvard und beschäftigte sich mit der Beziehung zwischen Erinnerung, Emotionen und Literatur.

Zusammen mit dem Klappentext des Romans wecken diese Fakten Hoffnung auf ein tiefschürfendes und nachhallendes Leseerlebnis.

In welche Richtung würdest du gehen?

Stell dir vor, du lebst in einem Tal, und dieses Tal ist umringt von weiteren Tälern. Das Besondere an deinem Zuhause ist, dass du die Nachbartäler nur bei einem Trauerfall und mit einer Ausnahmegenehmigung besuchen darfst, denn die Täler sind jeweils zwanzig Jahre in der Zeit versetzt.

Diese Zeitreise-Thematik bietet den Raum zum Philosophieren und stellt eine wichtige Frage: Handelt und agiert man anders in seinem Leben, wenn man die Chance hat, die Vergangenheit oder die eigene Zukunft zu besuchen?

Im Roman „Das andere Tal“ ist die junge Odile die Hauptprotagonistin. Sie ist eine Außenseiterin, weder verwöhnt vom Leben noch reich beschenkt mit vielen glücklichen Erinnerungen. Sie lebt mit ihrer Mutter in dem gut bewachten Tal, mit dem Wissen um die Existenz der anderen Täler und unter der Führung und Beobachtung des Conseils. Und so wird der Lesende ebenso zum Beobachter degradiert: Zum Beobachter ihres Lebens.

Der Roman „Das andere Tal“ konfrontiert den Leser nicht nur mit der bedrückenden Handlung und seinen angepassten Figuren. Er zwingt den Lesenden sofort zum Nachdenken über die Fragen des Lebens, über die Effekte und Komplikationen von Zeitreisen und all den damit verbundenen Konsequenzen. Das Gedankenspiel mit der Frage „Was wäre wenn?“ ist eines der zentralen Themen des Romans und spiegelt sich in den Hauptfiguren wider.

Melancholie trifft auf Dystopie

Beim Lesen des Klappentextes war ich mir nicht sicher, ob der Roman die Buch-Kategorie „Coming of Age“ streift. Doch die angeschnittene Handlung und die sich daraus aufdrängenden philosophischen Ansätze machten mir schnell bewusst, dass dieses Buch nicht dieser Kategorie zuzuordnen ist.
Nach dem Lesen des Romans kann ich sagen, dass es für eine Leserschaft geschrieben worden ist, die sich bewusst mit der Hässlichkeit des Seins auseinandersetzen will.

Bezüglich der Bewertung des Schreibstils und des Romans an sich bin ich nach wie vor schwankend in meiner Beurteilung. Weitgehend empfinde ich das Buch gut, aber es offenbart auch Schwächen.

Grundsätzlich liest sich der Roman „Das andere Tal“ flüssig. Doch das Fehlen der Anführungszeichen bei der wörtlichen Rede hat mich bis zum Schluss des Buchs störend begleitet. Obwohl man sich zwangsläufig daran gewöhnt, habe ich es als hinderlich wahrgenommen.

Der Autor hat für seine Geschichte einen sehr ruhigen, unaufgeregten Ton gewählt. Mit dieser Tönung hat er seiner Szenerie einen beklemmenden Mantel umgelegt. Er kreiert durch diese Klangfarbe und ergänzt durch die detaillierten Beschreibungen eine düstere und melancholische Grundstimmung. Selbst über die wenigen Passagen der jugendlichen Unbeschwertheit liegt immer eine Note der Trübseligkeit.
Trotz aller Tristesse schafft er den Drahtseilakt der Poesie und bringt kleine bildreiche Lichtblicke hervor. Beim Spiel mit den Worten, dem literarischen Pinselschwung blitzen die poetischen Leuchtfeuer der pointierten Sprachgewalt des Autors auf. Es sind diese feinen Beschreibungen, welche mich letztlich wirklich berührt haben. Mit nur wenigen Worten zeichnet er ein Bild, und der Lesende versteht …

Es wurde Abend, ohne dass die Sonne unterging. Das Tageslicht rutschte einfach zurück in die Erde.

und gefolgt von

Ich … beobachtete die an der Wand herunterfließenden Schatten.

Hach …

Das andere Buch

Der Roman „Das andere Tal“ ist definitiv keine leichte Kost. Kein Buch für unbeschwerte Lesestunden.
Diese Geschichte setzt sich mit zahlreichen (zwischen)menschlichen und systemischen Problematiken auseinander, unter Zuhilfenahme der erdachten, komplexen Gesellschaft in Odiles Welt.
Die Handlung wird durchgehend aus der Sicht von Odile erzählt. Von Anfang an hatte ich große Hoffnungen in diese außergewöhnliche Figur gesetzt. Die Weiterentwicklung ihrer Rolle hat der Autor sehr konsequent fortgeführt, auch wenn sie mir persönlich nicht behagt hat. Er hat sich entschieden, Odile ein schweres Paket zu schnüren, und dies hat er wirklich mutig und stark umgesetzt.

Trotzdem muss ich kritisch anmerken, dass die Charaktere, aber besonders Odile, mir durchweg fremdblieben. Eingangs schrieb ich „Und so wird der Lesende ebenso zum Beobachter“, und dieses Empfinden hatte bis zum Ende des Buchs bestand.

Der Roman wird polarisieren. Dies ist vermutlich vom Autor exakt so beabsichtigt. Er will mit seinen kleinen philosophischen Ausflügen zum Nachdenken animieren, um den Sinn und die Folgen der Entscheidungen zu reflektieren.

Vollständigkeitshalber muss ich erwähnen, dass es im Plot einige Logikfragen gibt, welche sicherlich dem einen oder anderen aufstoßen werden. Für mich war das nicht entscheidend, da dies bei Zeitreise-Literatur ein bekanntes „Problem“ ist und für mich der künstlerischen Freiheit unterliegt.

Mein Fazit zum Buch

Der Roman „Das andere Tal“ entführt den Lesenden in eine dystopische Welt. In einer beschaulichen Tonlage wird die bewegende Geschichte von Odile in einem durchweg düsteren und von überwältigender Trostlosigkeit geprägten Zeitreise-Setting erzählt.

Es ist eine unumstößliche Tatsache, dass das Buch so gänzlich anders als von mir erhofft war. Dass mich die massive, bildgewaltige Tristesse erdrückt hat. Dennoch hat das Buch mich erreicht. Noch lange nachdem ich das Buch zugeklappt hatte, habe ich über die verschiedenen Aspekte nachsinniert.

Es wird definitiv kein Lieblingsbuch, aber es wird eines der Bücher, das ich lange in Erinnerung behalten werde.

Meine Bewertung

4 Sterne Bewertung der Buchleserin
Hinweis: Keine bezahlte Werbung
ISBN:978-3-257-07282-2
Sprache:Deutsch
AusgabeGebundenes Buch
Seitenzahl464
VerlagDiogenes
Erscheinungsdatum:20.03.2024

Ein Zeitreise-Roman der anderen Art