Die Insel der weißen Lilien
von Jorid Mathiassen
Gegenwart trifft auf Vergangenheit
Linnea will nach dem unschönen Ende ihrer Beziehung mit einem verheirateten Mann einfach raus aus Oslo. Kurzentschlossen verlässt sie die Großstadt und zieht zusammen mit Kater Arthur auf die stürmische Insel Hjartøy in Nordnorwegen, ins Haus von Marie, der verstorbenen Großtante von Linneas bester Freundin.
Auszug des Klappentexts
Schnell lebt sie sich ein und mit dem charmanten alleinerziehenden Vater Karsten gibt es einen Mann, der sie fasziniert. Ein Fund im Haus wirbelt alles durcheinander: Eine alte Bronzeglocke bringt Linnea auf Maries Spuren, die weit über 60 Jahre in die Vergangenheit führen …
Eine bewegende Geschichte über Lebenswege und Familie
Ein paar Worte vorweg
Der Roman „Die Insel der weißen Lilien“ von Jorid Mathiassen wird als „Romance in Nordnorwegen“ tituliert, und das wird dem Buch nicht gerecht.
Das Cover mit seiner fröhlichen Farbgestaltung inklusive der vor dem roten Häuschen rudernden Frau vermag zwar auf den ersten Blick den Charme eines locker-leichten skandinavischen Liebesromans versprühen, aber davon darf man sich nicht täuschen lassen. Doch der Reihe nach …
Jordis Mathiassen ist eine norwegische Verlagslektorin, und der hier besprochene Roman „Die Insel der weißen Lilien“ ist ihr Debüt. Dass sie den Umgang mit der bildhaften Sprache und den sanften Druck auf die Gefühlswelt des Lesenden beherrscht, ist aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit schon fast zu erwarten. Doch hier sage ich bewusst fast, denn Lektorieren ist was anderes, als selbst all diese Zeilen aufs leere Blatt Papier fließen zu lassen. Es zu durchdringen mit all den Bildern aus ihrem Kopf. Aus denen Wörter, Sätze und anschließend ganze Kapitel geformt werden müssen.
Worum es geht
Die junge Linnea entflieht zusammen mit ihrem Kater Arthur ihrer Heimatstadt Oslo, um sich auf der nordnorwegischen Insel Hjartøy im Haus von Marie, der verstorbenen Großtante ihrer besten Freundin, von einer unangenehmen Trennung zu erholen. Dort in der Abgeschiedenheit sucht sie Ruhe und Klarheit, findet jedoch eine alte Bronzeglocke und ist schnell einem Geheimnis auf der Spur.
Das abgelegene Haus ist alt und fest in der Hand der Naturgewalten. Die betagten Nachbarn sind freundlich, aber lediglich der junge Elektriker Karsten, seines Zeichens alleinerziehender Vater von Zwillingsmädchen, bietet die Chance zum Gespräch mit Altersgenossen.
Spürt ihr es?
Ein Schelm, der in Klischees denkt
Die Konstellation: Junge Single-Frau auf einer abgelegenen kargen Insel, ein sehr hilfsbereiter alleinstehender Vater, kombiniert mit Sturm und einer Brise Romantik und zack: Fertig ist ein Liebesroman nach dem bekannten (und sehr gut funktionierenden) Schema.
Rumms! Die Schublade ist zu, obwohl man kaum mehr daneben liegen kann. Trotz des Vorhandenseins aller schriftstellerischen Zutaten für eine klassische Herzschmerzliebesgeschichte, ist das nicht das Fahrwasser dieses Plots.
Vermutlich wird es deshalb einige enttäuschte LeserInnen geben, und daran könnte die Covergestaltung schuld sein. Das Cover ist hübsch, aber passt eben nicht zur Geschichte, auch wenn sich alle handlungsrelevanten Elemente auf dem Buchdeckel wiederfinden.
Es geht auch ohne Kitsch
„Die Insel der weißen Lilien“ ist eine berührende Geschichte über die Liebe und Neuanfänge, und doch wartet der Handlungsverlauf mit so viel mehr auf. Die Erzählung hat zwei ganz unterschiedliche Handlungsstränge, die Vergangenheit und die Gegenwart. Dieser Perspektivwechsel gewährt der Geschichte Spannung, die Erzählweise unterstreicht diese, und somit ist die Geschichte aufgrund ihrer Vielschichtigkeit sehr ansprechend. Die Stränge wurden von der Verfasserin gekonnt zu einer Geschichte über Träume, Liebe, Familie, Neuanfänge und die Grausamkeiten der Kriegsjahre miteinander verflochten.
Zum einen haben wir das Heute, die Zeit von Linnea und ihrem Aufenthalt im Haus von Marie. Auf der Suche nach sich selbst und den Geheimnissen der Vorbesitzerin.
Zum anderen eröffnen sich peu à peu Einblicke in die prägenden Jugendjahre von Marie selbst. In dieser Zeit herrschte Krieg. Man bekommt einen Einblick in den weniger bekannten Teil der norwegischen Geschichte: die „Blutstraße“, erbaut von den armen Seelen der „Serbenlager“.
Die Autorin vermischt gekonnt Fiktion mit der Geschichte, und man kann sich dem beklemmenden Gefühl beim Lesen nicht verwehren, wenn man die heutigen Bilder in den Nachrichten sieht. Die Grausamkeiten waren damals real. Es waren Väter, Brüder und Nachbarn (und natürlich ist hiervon das weibliche Geschlecht nicht ausgenommen), die sich in wahre Monster verwandelten, die quälten, drangsalierten und über Leben und Tod entschieden. Geschichte? Fiktion? Für mich liest sich das erschreckend aktuell …
Trotz aller Schwere der Thematik gelingt der Autorin das Kunststück, eine Geschichte zu verfassen, die zwar schockiert, aber auch sehr berührt, und am Ende den Leser mit einem warmen, positiven Gefühl entlässt.
Der Schreibstil hat mir gefallen. Er wirkt schnörkellos und weist dennoch eine leichte erzählerische Finesse auf. Insgesamt liest sich das Buch sehr flüssig, so dass ich den Roman in wenigen Tagen durchgelesen hatte. Der Nachhall blieb um einiges länger erhalten.
Mein Fazit
„Die Insel der weißen Lilien“ ist ein vielschichtiger Debütroman, der viel mehr bietet als die Optik vermuten lässt. Ist dieser Roman ein Frauenbuch? Ja. Und dennoch sollte er nicht als (klassischer) Liebesroman verstanden werden.
Meine Bewertung
Hinweis: Keine bezahlte Werbung
ISBN: | 978-3-458-68306-3 |
Sprache: | Deutsch |
Ausgabe | Taschenbuch |
Seitenzahl | 335 |
Verlag | Insel Verlag |
Erscheinungsdatum: | 19.11.2023 |
Gegenwart trifft auf Vergangenheit