Regal der ungelesenen Bücher
Sammelleidenschaft oder schon Hamstern?
In meinen Buchbesprechungen habe ich öfters meinen Stapel ungelesenen Bücher (SuB) erwähnt. Wobei der Stapel bei mir eher ein Regal bzw. mehrere beansprucht. Es erfüllt mich mit Vorfreude, jederzeit zu meinem Regal der ungelesenen Bücher hingehen und zugreifen zu können. Egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Egal in welcher Stimmung. Es steht garantiert das richtige Buch mit der passenden Geschichte für genau diesen Moment im Regal der ungelesenen Bücher.
Wenn die Zeit nicht mehr reicht.
Vor wenigen Tagen erreichte mich die Nachricht, dass ein langjähriger Weggefährte unsere schöne Welt für immer verlassen hat. Die Krankheit war eine hässliche Überraschung. Und es ging schnell. Zu schnell, für alle Beteiligten.
Immer wenn ich daran denke, höre ich die Zeilen des alten Songs „Wenn ein Mensch lebt“ der Puhdys in meinem Kopf:
„Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt, sagt die Welt das er zu früh geht.
(Auszug aus „Wenn ein Mensch lebt“ der Puhdys | Komposition: Peter Gotthardt / Text: Ulrich Plenzdorf )
Wenn ein Mensch lange Zeit lebt, sagt die Welt es ist Zeit . . ., dass er geht.“
Meine Gedankenspirale dreht sich seitdem unaufhörlich:
Was er alles verpasst! Was er hätte noch alles sehen, hören, erleben und lesen können?
Der Blick schweift in den letzten Tagen häufig zu meinem SuB. Eine Frage drängt sich immer lauter werdend in den Vordergrund: Schaffe ich es noch, alle diese Geschichten zu lesen? Direkt gefolgt von dem Zweifel, ob ich nicht lieber in den nächsten Wochen die Buchhandlungen meiden sollte. Ist meine Büchersammelleidenschaft noch normal?
Lesebegeistert bis ins hohe Alter
Während die Spirale so richtig Fahrt aufnimmt, drängt sich meinem geistigen Auge ein Bild auf. Eine alte Bekannte findet den Weg in meine Gedankenwelt. Mittlerweile ist die Dame nun Mitte 90 und lebt noch daheim. Ihr Wohnzimmer zierten einst unzählige Regale gefüllt mit zig Büchern. Sie berichtet jedem, dessen Blick länger daran hängen bleibt, dass sie jedes Buch gelesen hat, manche mehrfach. Doch nun sind die Regale nahezu verwaist, ein paar wenige Bücher sind noch da. Den Rest hat sie verschenkt. Die Augen machen nicht mehr mit. Die Sehkraft schwindet immer mehr, bald ist sie vollständig blind. Und sie? Sie liest digital mit Hilfe eines Lesegeräts für Blinde. Außerdem hat sie die Hörbücher für sich entdeckt. Nun hört sie täglich die Krimis und alles, was sie in die Finger bekommt. Oft weit bis spät in die Nacht. Schlaf brauche sie nicht mehr viel, und bald hätte sie mehr als genug Zeit zum Schlafen, sagt sie. Tolle Einstellung!
Ausblick gewagt
Fällt nun mein Blick zurück auf mein Regal der ungelesenen Bücher, dann muss ich immer noch heftig schlucken. Aber die Schwermütigkeit aufgrund der tragischen Geschichte bekommt Konkurrenz, denn das strahlende Gesicht der älteren Dame kommt mir in den Sinn. Meine Mundwinkel wandern langsam nach oben, und ich bin erfüllt von der Hoffnung, dass ich jedes einzelne Buch lesen werde und zur Not eben mit Hilfe.
Der Stapel ungelesener Bücher – ein paar Gedanken dazu